Knapp drei Monate nach der Veröffentlichung der FRONTEX FILES hat sich die öffentliche Empörung über die Teilnahme von OVGU-Mitarbeiter:innen an einer Konferenz der europäischen Grenzschutzagentur Frontex wieder weitestgehend gelichtet. Die OVGU hat diesbezüglich eine Pressemitteilung zu „Ethik in Sicherheitsrelevanter Forschung“ veröffentlicht. Außerdem wurde von den Studierenden der OVGU eine „AG-Ethik“ gegründet sowie durch den Senat der Universität ein studentisches Mitglied in der Kommission Ethik für sicherheitsrelevante Forschung (KEF) bewilligt.
Grundsätzlich sind diese Vorgänge erfreulich. Jedoch ist es auch wichtig, den Kontext dieser zu reflektieren. Mit der Teilnahme an der benannten Konferenz im Oktober 2019 unterstützten Wissenschaftler:innen der OVGU die europäische Grenzschutzagentur aktiv und wirkten damit daran mit, das europäische Grenzregime noch repressiver auszugestalten. Dass weder die Aktivitäten von Frontex noch das europäische Grenzregime als Ganzes mit völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Prinzipien kompatibel sind, scheint in diesem Zusammenhang nachrangig gewesen zu sein.
Es war augenscheinlich nachrangig, dass Frontex erwiesenermaßen seit Jahren Pushbacks durchführt, die Geflüchtete in Lebensgefahr und um ihr völkerrechtlich verbrieftes Recht auf die Beantragung von Asyl bringen. Es war augenscheinlich nachrangig, damit an einem Grenzregime mitzuwirken, in dessen Rahmen das Sterben zehntausender vor den Toren Europas mindestens toleriert, vielleicht sogar bewusst gefördert wurde und wird, etwa durch die Kriminalisierung ziviler Seenotretter:innen. Es war augenscheinlich nachrangig, sich damit an einem Grenzregime zu beteiligen, für das die massenhafte Verelendung geflüchteter Menschen konstitutiv ist, wie etwa die katastrophalen Zustände im inzwischen geschlossenen Lager Moria oder im dafür aufgebauten Ersatzlager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos belegen.
Diese Zusammenhänge zu reflektieren, lässt den Titel der im Februar durch die OVGU veröffentlichten Pressemitteilung „Ethik in Sicherheitsrelevanter Forschung“ zynisch erscheinen. Während vor den Toren Europas jährlich zehntausende Menschen ihre Sicherheit, ja ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen, impliziert der in diesem Kontext verwendete Sicherheitsbegriff eine Gefährdung der Sicherheit von Euopäer:innen durch Geflüchtete. Was ist also sicherheitsrelevant? Sichere Fluchtrouten nach Europa oder das Unterstützen einer Agentur, die genau das konterkariert?
All das zeigt, dass der Umgang mit sogenannter „sicherheitsrelevanter Forschung“ an unserer Universität nicht dem Gutdünken einzelner überlassen werden kann. Es braucht einen regelbasierten Transfer von Erkenntnissen, die an unserer Universität generiert wurden. Aus diesem Grund setzt sich die erst kürzlich gegründete „AG-Ethik“dafür ein, dass zukünftig ethische Belange in der Forschung aber auch in der Kommunikation ihrer Ergebnisse stärker berücksichtigt werden. Dabei ist das langfristige Ziel die Einführung einer Zivilklausel.
Im Kern würde eine solche Klausel festlegen, dass die Erkenntnisse aus an der OVGU umgesetzten Forschungsprojekten ausschließlich der zivilen Nutzung vorbehalten wären. Dieses Anliegen der „AG-Ethik“ unterstütz der BSgR ausdrücklich! Außerdem wird die „AG-Ethik“ in den nächsten Wochen und Monaten verschiedene Veranstaltungen zu diesem Thema durchführen. Diese möchten wir den geneigten Lesenden wärmstens empfehlen.
Übrigens sind Zivilklauseln an deutschen Universitäten keineswegs ein Unikum. So haben laut der Initiative Hochschulen für den Frieden aktuell fast 70 deutsche Hochschulen eine solche, darunter die TU Darmstadt und die Uni Halle-Wittenberg. Und auch an der OVGU ist es an der Zeit, am besten gestern!